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Die Anhaftung an Emotionen loslassen

Die vergangenen Wochen waren für mich von intensiven inneren Prozessen geprägt, die vor allem von einem Thema dominiert wurden: Die Begegnung mit meinen Emotionen in all seiner unvergleichlichen Vielfalt und Intensität.

So lange ich denken kann, spielten tiefe Emotionen für mich eine große Rolle. Sie fesselten mich, ließen mich lebendig fühlen, erzeugten ein angenehmes Kribbeln im Bauch und verhießen Spannung. Vor Romantikkitsch triefende Romane in der Pubertät, tränenreiche Schnulzen vor der Mattscheibe, die GALA im Wartezimmer beim Arzt und eine nicht zu leugnende, wenn auch oft unterdrückte Sensationsgier – alles Anzeichen dafür, das Emotionen gerne ge- und erlebt werden. Nie habe ich dies als etwas besonderes angesehen, sondern eher als normal betrachtet. Bis das Leben mich an einen Punkt führte, an dem ich nicht mehr leugnen konnte, dass meine Beziehungen, vor allem die zu Männern, oft von einer ähnlichen Dynamik gekennzeichnet waren und eines gemeinsam hatten – das Drama in seinen vielen verschiedenen Ausführungen. Im laufe der letzten Jahre, mit dem zunehmenden Wunsch, mich selbst und meine Muster ohne Verzerrung und Beschönigung kennen zulernen, wurde mir mehr und mehr klar, wie sehr ich, wenn auch unterbewusst, diese kleinen und großen Dramen des Alltags brauche.

 

Die Dynamik hinter den Kulissen

Umso offener ich mit mir selber wurde, um so klarer konnte ich die Dynamik dahinter verstehen und fühlen: Meist nach einer unspektakulären Phase der Ruhe und des Gleichklangs in meinem Leben und meiner Beziehung baute sich in mir zunehmend ein gewisser Druck auf. Dem zu Grunde lag oftmals ein undefinierbares Gefühl von langer Weile und der Wunsch nach mehr Lebendigkeit in meinem Dasein. Unbewusst schuf ich mir nun die ersehnte Action durch die Inszenierung eines Dramas und mitten in diesem Drama, wenn die Emotionen hoch kochten, Tränen flossen und Türen geknallt wurden, fühlte ich irgendwo eine wohlige Lebendigkeit, das Gefühl von Intensität umschmeichelte mich in tiefer Bedeutsamkeit, es war, als ob ich endlich all das rausbrüllen und -weinen konnte, was in mir begraben war. Dazu gesellte sich, nach all der Ruhe und der vermeintlich langen Weile in der Phase zuvor das Gefühl, endlich wieder um etwas kämpfen zu können. Dies wechselte sich ab mit einem tiefen Selbstmitleid für das angebliche Opfer, dass ich in der Inszenierung meines Dramas spielte. Alles in allem jedoch ein absolut willkommes Siedebad der Emotionen, in dem ich mich baden konnte.

Eine andere, auch sehr häufig wiederkehrende Situation des Alltags ist das Erleben einer bestimmten Begebenheit, auf die ich mit extremer Emotionalität reagiere. Emotionen wie Angst und Sorge, meist ist es auch Wut oder Agression kommen hoch und innerhalb von Sekunden ziehen sie mich mit sich in einen Abgrund aus unglaublich vernichtenden Gedanken und Bildern, grenzenloser Panik, einem tiefen schwarzen Loch aus Lethargie und Apathie. Ich verliere mich dann meist so sehr in meinem Emotionen, dass ich für kurze Zeit keinerlei Zugriff mehr auf mich selbst habe, auf die Seite von mir, die unabhängig von diesen Emotionen existiert, geschweige denn auf die tatsächliche Essenz meiner Seele. Die in diesem Moment über mich hereinbrechenden Emotionen fühlen sich realer als alles andere an, was ich noch einen Moment zuvor erlebt, gewusst, gefühlt habe.

Bevor ich langsam begann, die Dynamik hinter den Kulissen zu entlarven, stellte sich das alles als eine immer wiederkehrende Abfolge höchst dramatischer Situationen dar, die mir vor allem immer wieder ein Gefühl bestätigten: ich habe es besonders schwer in diesem Leben, werde besonders unfair behandelt und erfahre unnatürlich viel Ungerechtigkeit – die perfekte Opferrolle.

Mit zunehmender Ehrlichkeit mir selbst gegenüber konnte ich für mich die Gemeinsamkeiten dieser Dynamiken erkennen. Dem Inszenieren von Dramen liegt meiner Meinung nach eine Sucht nach Emotionen zugrunde, weil sie mir ein auf anderem Weg nicht erlebbares Gefühl von Lebendigkeit und großer Bedeutung geben. Den Momenten, die mich wie ein Tsunami der Emotionen überrollen, ist eines eigen: die temporäre vollständige Identifikation mit der jeweiligen Emotion. Beides liegt begründet in der grundsätzlichen Anhaftung an Emotionen.

 

Die Anhaftung an Emotionen loslassen

Wie bei allen alten Mustern ist auch hier der erste Schritt die Bewusst werdung. In dem Augenblick, in dem ich meine alten Muster und Gewohnheiten vom Schatten ins Licht bringe, begebe ich mich auf den Weg der Heilung. Was einmal erkannt wurde, kann nur sehr schwer wiedervollständig in der Versenkung des Unbewussten verschwinden. Für mich ist diese Sichtweise sehr wichtig, um mich nicht in permanenter Selbstverurteilung zu verlieren, wenn ich unliebsame Verhaltensmuster nicht sofort oder nur sehr langsam loslassen kann – dann ist es für mich sehr motivierend, mir vor Augen zu halten, dass ich den ersten, wichtigsten Schritt bereits gegangen bin, in dem ich mir BEWUSST wurde.

Der zweite Schritt ist für mich die erleuchtende Erkenntnis, dass hinter jeder Emotion, hinter jedem inszenierten Drama oder jedem Ausraster aufgrund von Emotionstsunamis eine tiefe Wahrheit steckt, die gesehen werden möchte. Jede Emotion in mir steht für ein Bedürfnis, dass ich, meist schon sehr lange, unterdrückt und missachtet habe. In meinem Fall habe ich verstanden, dass meine Sucht nach Emotionen, die oft so heftige Dramen entstehen ließ, in Wahrheit den tiefen Wunsch nach mehr Lebendigkeit in meinem Leben in Verbindung mit einem ganz individuellen Weg des Selbst- und Seelenausdrucks einforderte. Dem zu Grunde lag eine jahrelange Selbstverleugnung. Eine stetige Definition über andere, oft gepaart mit einer ungesunden Selbstaufgabe, durch die ich mich immer wieder als Opfer der Umgebung und der Umstände sah. Erst mit Anerkennung meiner Seelenbedürfnisse, mit meinem Entschluss, den Raum zu öffnen für mehr Selbstausdruck und den Wunsch nach Lebendigkeit konnte ich meiner Sucht entgegen treten. Auch den vielen Situationen, in denen die Emotionen mich überrollen liegt eine ernstzunehmende Wahrheit zugrunde, die ich gerade begonnen habe, für mich zu entschlüsseln, um den verkümmerten Bedürfnissen in mir endlich die Beachtung zu schenken, die sie schon so lange entbehren mussten.

Die Wahrheiten, die hinter unseren Emotionen stehen, sind absolut individuell und mit der ganz eigenen Geschichte eines Menschen verwoben – und doch ist es für mich eine unumgängliche Sache, sich diesen Wahrheiten zu stellen auf dem Weg, die Anhaftung an Emotionen los zulassen. Die Dinge hören erst dann auf, sich in unserem Leben zu zeigen, wenn wir bereit sind, zu verstehen und zu fühlen, was sie uns sagen möchten. Wenn wir dahinter schauen und uns endlich das geben, was wir uns selbst so lange versagt haben. Im Umkehrschluss habe ich selbst erlebt, wie vehement sich das Leben ausdrücken kann, wenn wir nicht hinsehen wollen. Wie eindrücklich immer wieder krasse und krassere Situationen in immer kürzeren Abständen entstehen, die mir ein und dieselbe Sache verdeutlichten, weil ich nicht verstehen wollte.

 

Gelassenheit – die Essenz innerer Balance

Meine Erfahrung ist, dass sich mit jedem einzigen Mal, wo ich anders reagiere als bisher, also mein altes Verhaltensmuster durchbreche, etwas Neues in mir festigt, fast, als ob eine Umprogrammierung stattfindet. Ein Seelenteil in mir, den ich als absolut wahr und authentisch empfinde, wird dadurch mehr und mehr gestärkt. Und doch erlebe ich auch, wie hartnäckig sich diese jahrelangen Muster halten können, nicht nur auf dem Gebiet der Emotionen.

Ein Wort kam in der letzten Zeit auf den verschiedensten Wegen immer wieder zu mir: Gelassenheit. Allein wenn ich dieses Wort höre oder ausspreche, löst es in mir ein angenehmes Gefühl der Ruhe und der Entspannung aus. Und so ist die Essenz von Gelassenheit für mich zum dritten Schritt in der Arbeit mit meinen Emotionen geworden. Jedes Mal, wenn sich eine Situation anbahnt, die in mir Emotionen wie Wut, Agression, die alte Opfernummer oder was auch immer auszulösen droht, motiviere ich mich dazu, gelassen zu sein. Für mich heißt das absolut nicht, die entstehende Emotion weg zudrücken, all das habe ich bereits erfolglos versucht – die Emotionen suchen sich lange hartnäckig ihre Wege, bis sie angesehen werden. Vielmehr ist es ein Zulassen derselbigen mit einem gleichzeitigen Schritt zur Seite. Ich nehme wahr, was sich gerade in mir abspielt, ohne mich vollständig damit zu identifizieren, ohne mich in Hilflosigkeit davon vereinnahmen zu lassen. Ich schließe somit den Raum um mich herum nicht, was mir ermöglicht, weiterhin wahrzunehmen, was passiert, während die Emotion mich ergreift. Dies wiederum hilft mir sehr, mich nicht vollständig von meiner Emotion beherrschen zu lassen und die Realität nicht von ihr färben zu lassen. Die Bedeutung, die ich ihr gebe, hat sich damit vollständig verändert. Ich habe jetzt weiterhin die Entscheidungsgewalt über mein Handeln und kann in Klarheit agieren. Gleichzeitig nehme ich trotzdem die emotionalen Winde oder auch Stürme in mir wahr. Sie werden aber immer seltener zu einem Tsunami, der mich handlungs- und bewegungsunfähig macht.

Für mich ist es in Verbindung mit meinen Emotionen sehr wichtig, die Dynamik aus Emotionalität, Selbstverurteilung und Hilflosigkeit zu durchbrechen, in dem ich anerkenne, wie bedeutend Emotionen sind, um mich auf tiefere Wahrheit in mir aufmerksam zu machen, um mich mir selbst und meinen authentischen Seelenbedürfnissen näher zu bringen. In dem Zusammenhang war es für mich sehr befreiend, die ganze Konditionierung hinter den Emotionen loszulassen, sondern sie tatsächlich als Wegweiser zu betrachten, deren Sprache ich mir langsam, voller Geduld aneignen werde – hin zu Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit, während ich die vollständige Verantwortung für als das übernehme, was im Inneren und im Außen statt findet.

 

Bilder:

Boot:http://www.flickr.com/photos/voncroy/

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2 Comments

  • pfiffikus

    Danke für diese wunderbaren

    Danke für diese wunderbaren Zeilen, sie sprechen mir geradewegs aus der Seele.  In den letzten Wochen habe ich ähnliche Erfahrungen gemacht und Erkenntnisse über mich gewonnen. Ich habe erkannt, dass ich oft den leidvollen, dramatischeren Weg suche um mich lebendig zu fühlen und um Aufmerksamkeit zu bekommen. Ich habe aber ebenso die Erfahrung gemacht, wie es ist, das Leben über die Freude zu fühlen, und dies mir ebenso Aufmerksamkeit bescherrt – auf angenehme Weise. Dieses Verhalten zu erkennen, hat mich einen großen Schritt weiter gebracht. Dennoch nagt die Ungeduld und Unzufriedenheit an mir, da ich dieses Muster noch nicht durchbrochen und aufgelöst habe. Aber ich versuche einen Schritt nach dem anderen zu gehen und jeden einzelnen Schritt zu würdigen. Das ist ebenso eine Erkenntnis, die mir bewusst geworden ist. Ich bin oftmals zu sehr auf mein Ziel fixiert und würdige den einzelnen Schritt, der zum Ziel führt, nicht. Eher im Gegenteil, ich erlebe ihn als mühsam und schwierig und erlaube mir erst mit Erreichen des Ziels Gefühle von Glück, Freude, Liebe und Zufriedenheit. Ich darf bereits bei jedem Schritt mir diese Gefühle erlauben. Das ist allerdings leichter gesagt als getan. Es war harte Arbeit, die Freude in mir zuzulassen. Doch jetzt ist sie da, trotz aller Widerstände. Es sind noch viele Schritte notwendig, die meine volle Aufmerksamkeit und Würdigung verlangen und mich schließlich meine alten destruktiven Muster auflösen lassen.

    Es hilft zu wissen, dass es nicht nur mir alleine so ergeht. Es bestätigt mich auf meinem Weg vorangekommen zu sein, auch wenn das für mich selbst nicht immer so ersichtlich ist.  Und es ermutigt mich, meinen Weg weiter zu gehen.

    Danke!